8. KAPITEL

Vanessa Kohl er lief unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Sie fühlte sich wie eine eingesperrte Katze, nicht wie ein Hotelgast. Aus ihrem Fenster sah sie die schneebedeckten Hänge des Mount Hood und die Segelboote, die auf dem Willamette River kreuzten. Auf den Straßen drängten sich die Menschen, um den Sonnenschein zu genießen. Vanessa hätte alles darum gegeben, ebenfalls an der frischen Luft sein zu können, statt die klimatisierte Luft des Hotels atmen zu müssen, aber sie fürchtete, dass sie Ami Verganos Anruf verpassen könnte.

Eine Zeitlang hatte Vanessa versucht, sich mit Fernsehen abzulenken, doch die Shows waren unerträglich langweilig. Die Nachrichtensender waren noch schlimmer. Sie waren geradezu besessen vom Präsidentschaftswahlkampf und Morris Wingates steigenden Umfragezahlen. Auf jedem Kanal lächelte ihr Vater mit selbstgefälliger Überheblichkeit in irgendeine Kamera.

Das Telefon klingelte.

»Miss Kohler?« fragte Ami.

»Warum rufen Sie erst jetzt an? Ist etwas passiert?«

»Es gab Probleme, aber ich glaube, wir haben sie im Griff.«

»Was für Probleme?«

Ami berichtete Vanessa von ihren Abenteuern mit Dr. Ganett, dem Stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt Kirkpatrick, Detective Walsh und Daniel Morelli.

»Dan will Sie nicht sehen«, schloss Ami. »Er hat sich sehr aufgeregt, als ich versuchte, ihn zu überreden, mit Ihnen zu sprechen. Außerdem hat er mir klargemacht, dass ich den Fall so rasch wie möglich abgeben soll.«

»Mist.« »Ich habe es wirklich versucht. Ich werde es noch einmal probieren, wenn er ein wenig darüber nachdenken konnte, aber ich weiß nicht, ob das etwas an seiner Haltung ändert.«

Vanessa hatte einige Vorstellungen, wie man ihn umstimmen könnte. Sie konnte jedoch keine davon einer vereidigten Anwältin anvertrauen.

»Also gut«, sagte sie zu Ami. »Sie haben Ihr Bestes getan.«

»Soll ich ihm einen guten Strafverteidiger besorgen?«

»Ja.«

»Das wird teuer.«

»Geld ist das geringste Problem«, erwiderte Vanessa.

»Vanessa, wer ist Dan? Der Staatsanwalt hat gesagt, sein Ausweis sei gefälscht. Sie können seine Fingerabdrücke in keiner Datei finden. Als ich Dan nach seinem richtigen Namen fragte, hat er sich ziemlich aufgeregt.«

»Glauben Sie mir, mit dieser Information wollen Sie sich nicht belasten.«

»Kein Anwalt wird Dan verteidigen, wenn er nicht weiß, wer er ist. Und kein Richter wird einen Mann gegen Kaution auf freien Fuß setzen, dessen Ausweispapiere gefälscht sind.«

»Das stimmt, aber ich werde es Ihnen trotzdem nicht sagen.« »War Dan in Vietnam?« Vanessa zögerte. »Ich weiß es nicht.«

»Ich glaube, er war dort Kriegsgefangener. Haben Sie davon gewusst?« »Nein.«

»Aber Sie wussten, dass er Soldat gewesen ist?« »Ich möchte unser Gespräch jetzt beenden, Ami.«

»Kirkpatrick und Walsh halten es für möglich, dass Dan ein Terrorist ist.« »Mir ist klar, dass Sie uns nur helfen wollen, aber ich lege jetzt auf. Danke für alles, was Sie getan haben.«

Vanessa unterbrach die Verbindung und klopfte eine Zigarette aus dem Päckchen, das neben dem Telefon lag. Während sie rauchte, lief sie unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Welche Möglichkeiten blieben ihr? Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihr Vater Daniel Morellis wahre Identität herausbekam.

Plötzlich fiel Vanessa ein, dass sie sich seit ihrer Ankunft in Oregon noch nicht bei Sam gemeldet hatte. Hatte Victor Hobson sein Versprechen gehalten, ihren Geliebten zu beschützen? War er in Sicherheit? Vanessa warf einen Blick auf die Uhr. An der Ostküste war es jetzt drei Stunden später. Sie wählte die Nummer ihrer Wohnung. Sam hob sofort ab.

»Gott sei Dank, es geht dir gut«, sagte sie, als sie seine Stimme hörte.

»Bei mir ist alles klar, aber ich mache mir wirklich Sorgen um dich.«

»Hat das FBI...?«

»Dein Freund Victor Hobson hat mich aus der Redaktion gezerrt, Vanessa. Es war sehr peinlich, vor allem, nachdem in der Nacht davor die Polizei hier angerückt ist.«

»Warum bist du nicht in einem sicheren Haus?«

»Ich bin nicht in Gefahr.«

»Verdammt, Sam, du bist in Gefahr. Du musst mir glauben. Mein Vater wird vor nichts zurückschrecken, wenn er erfährt, was ich weiß.«

»Geht es um Carl Rice, den Kerl aus deinem Buch?«

»Woher weißt du von Carl?«

»Hobson hat mich nach ihm ausgefragt. In was bist du da hineingeraten?«

»Es ist besser, wenn du das nicht weißt.« »Wo steckst du, Vanessa? Ich komme zu dir und helfe dir, das alles durchzustehen.«

»Ich will nicht, dass du kommst.«

»Bitte, du brauchst Hilfe.«

»Ich möchte, dass du die Wohnung verlässt, Sam. Ich möchte, dass du dich versteckst.«

»Vanessa ...«

»Nein, ich sage dir nicht, wo ich bin. Es wäre noch viel gefährlicher, wenn du auch hier wärst. Du würdest mich nur ablenken.«

»Vanessa ...«, wiederholte Sam, aber die Verbindung war bereits unterbrochen.

Ami war eher verwirrt als empört, als Vanessa Kohler ihr Gespräch so abrupt beendete. Ihr war klar, dass Vanessa Dan helfen wollte. Aber warum gab ihr keiner die Informationen, die sie brauchte, um ihre Arbeit tun zu können? Ami sah auf die Uhr. Es war Zeit, ihren Sohn von der Schule abzuholen.

Ryan wartete bereits auf sie, als Ami am Bürgersteig anhielt. Er wirkte erschöpft und war einsilbig, als er neben sie auf den Beifahrersitz rutschte.

»Wie war die Schule?« fragte Ami, während sie sich in den Verkehr einfädelte.

»Okay«, murmelte Ryan.

»Ich habe Dan heute im Krankenhaus besucht.«

Ryan sah sie erwartungsvoll an.

»Er lässt dir Grüße ausrichten. Er ist schon wieder ganz okay.«

»Wirklich?«

»Als ich bei ihm war, saß er schon im Bett und konnte sich mit mir unterhalten.« »Kommt er wieder nach Hause?« Ryans Blick verriet seine Hoffnung.

»Nein, Ryan. Er hat Mr. Lutz verletzt und diesen Polizisten, also muss er im Gefängnis bleiben und seine Strafe absitzen.«

»Und danach? Kann er dann nach Hause kommen?« »Das ist noch lange hin. Warten wir ab, was passiert.« Ryan ließ die Schultern hängen und senkte den Blick. Ami fühlte sich elend. Sie wusste nicht, was mit Dan geschehen würde. Er hatte zwar versucht, Ben Branton zu beschützen, als er Barney Lutz verletzte, und er hatte wirklich nicht wissen können, dass es ein Polizist war, der ihn von hinten packte und den er verletzen würde. Vielleicht würde ein guter Strafverteidiger eine Bewährung herausholen oder zumindest eine milde Strafe. Doch selbst wenn er auf Bewährung freikam, würde er bestimmt weggehen, davon war Ami überzeugt. Er hatte keine Wurzeln in Portland. Genau genommen schien er nirgendwo Wurzeln zu haben.

Ihr fiel ein, dass es das Problem seines zukünftigen Verteidigers war, das Rätsel um Daniel Morelli zu lösen, nicht ihres. Morgen würde sie ihre Anwaltsfreunde um eine Empfehlung bitten. Wenn sie einen guten Strafverteidiger gefunden hatte, konnte sie Vanessa den Namen geben

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